OCR
28. 6. 1969 Europa hat Eile! von Otto Habsburg Die weltpolitische Konjunktur fiir die Einigung Europas ist seit Beginn des Jahres 1969 giinstig geworden. Diese Entwicklung fallt zeitlich mit der groBen Wachablése in Westeuropa zusammen, dem Wandel in Frankreich, der Krise in England und der kommenden deutschen Bundestagswahl. Wir haben also eine neue Chance wesentliche Fortschritte zu machen, weil bekanntlich antretende Regierungen leichter Initiativen ergreifen k6nnen, als solche, die schon lange an der Herrschaft sind. Jenseits unserer Grenzen geht der Verfall sowjetischer Macht weiter. Seit der Explosion einer chinesischen Wasserstoffbombe am 27. Dezember 1968 ist die Konfrontation an den Gstlichen Marken der UdSSR in. greifbare Nahe. geriickt. Dadurch wird Moskau. gezwungen, Frieden im. atlantischen Raum zu suchen. Der russische Druck auf Mitteleuropa muB friiher oder spater nachlassen. Die ndachste ‘Welle des Polyzentrismus, die unweigerlich kommt, hat damit eine wesentlich bessere Ausgangsbasis als seinerzeit die ungarische Revolution oder der Prager Friihling. Die Einmischung in die Angelegenheiten freier éuropdischer Vélker, auch der Neutralen, wird. fiir den Kreml immer schwerer;. sie wird nur noch dort Erfolg haben, wo aus Schwáche oder. Konzeptlosigkeit: auf Wiinsche eingegangen wird, die bei Widetstand oder selbstbewuBter Haltung sofort ‘fallengelassen wiirden. Dazu kommt der Faktor Amerika. Die Prasidenten' Kennedy und Johnson hatten wohl duferlich nichts gegen eine europdische Einigung; in Wirklichkeit wurde aber diese nach Kraften sabotiert. Insbesondere den asiatisch orientierten Ratgebern des WeiBen Hauses,- wie Herrn Rostow, war ein unabhdngiges Europa unerwunscht. . Mit der Pradsidentschaft Richard Nixons und der Politik, die mit dem Namen von Professor Henry Kissinger verbunden ist, erfolgte diesbeziiglich eine grundlegende Wandlung. Washington ist nunmehr tiberzeugt, daB politisch wie wirtschaftlich es im wohlverstandenen Interesse. Amerikas ist, einen kraftigen und handlungsfahigen Partner in Europa zu haben. Demnach fallt die Schwachung des russischen Einflusses zeitlich mit einer Umorientierung Amerikas zusammen, wodurch die Aussichten wesentlich verbessert werden. Daher der wachsende Optimismus der Zustandigen. Es gibt allerdings einfluBreiche Persénlichkeiten, sogar in den europdischen Korperschaften, die anscheinend glauben, man könne sich Zeit lassen. Diese bequeme Spekulation ist falsch. Wahrend namlich die Schwaéchung der UdSSR wahrscheinlich Jahre, ja Jahrzehnte andauern wird, ist die giinstige Einstellung der USA keineswegs gesichert. Es ist namlich fraglich, ob Herr Nixon wiedergewaéhlt wird. Nach Ansicht 1972 der nachste Prasident der Vereinigten Staaten werden. Der jiingste Sohn der Kennedy-Dynastie hat erst seit dem gewaltsamen Tode seines Bruders Robert begonnen, eine eigenstandige politische Rolle zu spielen. Seine AeuBerungen in den letzten Monaten sind fiir die Zukunft nicht unbedenklich. Die Angtiffe Kennedys, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in Vietnam, verraten eine demagogische Unverantwortlichkeit, die wohl kaum echte Eignung fir die Fithrung des madchtigsten westlichen Staates verrat. Er fallt namlich seiner Regierung in den kritischsten Phasen der Friedensverhandlungen in den Riicken; er starkt damit die Gegner seines Landes und mindert die Chancen eines echten Friedens. Hier ist also ein Mann, der die AuBenpolitik offensichtlich so wenig begen sich bloB durch kleinliche wahlstrategische Interessen leitén laBt. . Halt man sich vor Augen, daB Kennedy vielleicht schon in dreieinhalb Jahren Prasident der Vereinigten Staaten sein kann, darf man die giinstige Zeit unter Nixon nicht ungeniitzt, verstreichen lassen. Es ist fiir Europa nachgeradezu eine Lebensfrage, auf eigenen Beinen’ zu stelien, noch bevor ein Umschwung in der Neuen Welt eintritt. Niemand kann uns namlich garantieren, daB es sich hier nicht: um eine letzte Chance handelt. :