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Ve THx6. 1969 Mythen zeitgenőssischer Politik Von Otto Habsburg In der Flut der Kommentare zum ersten Gange der franzésischen Prasidentenwahlen scheinen einige elementare Punkte zugunsten hochgestochener politischer Gedankenfliige vergessen’ worden sein. So war eines der ersten Opfer des Ereignisses der Mythus des Fernsehens. Die Technokraten der Politik glaubten, daB nunmehr der Kandidat keine Versammlungen mehr brauche, da zu diesen doch nur die Ueberzeugten’ kommen. Man miisse also nur eine telegene Person finden und diese im giinstigsten Licht wie einen Mannequin der Zahncreme-Inserate vorstellen. Das war, im Jahr 1965, die angebliche Wunderwaffe des. Christlichen Demokraten. Jean Lecanuet, mit den fiir ihn traurigen Ergebnissen, an die man sich noch er-innert. Keineswegs entmutigt erklarten nun die ‘selbsternannten Sachverstandigen, -der Erfolg de Gaulles ware auf seine durchschlagende Wirkung am Fernsehschirm zurickzufiihren. Man-vergaB dariiber, daB der -General in den Jahren vor der Wahl. systematisch alle Provinzen persdnlich bereist hatte. : : A Diesmal führte Herr Pompidou einen Wahlkampf, in dem die Versammlung das Wichtigste, das. Fernsehen aber nur als “Flilfswaffe betrachtet wurde. Das Ergebnis -war beeindruckend. Ueberall dort, wo der Kandidat persénlich erschienen war, lag sein Durchschnitt über seinem traditionellen oder nationalen Hundertsatz, Herr Poher hat das)auch indirekt eingestanden, indem er sich gezwungen sah, seinen Plan für den zweiten Wahlgang grundlegend zu ‘andern. Nea Im amerikanischen Wahlkampf vergan-genen November hatte der dritte Kandidat, -der gewesene Gouverneur George Wallace, mit Abstand seine besten Ergebnisse in ‘jenen Mittelstadten, die er allein besucht ‘hatte. Dazu kommt die Fehlleistung der Meinungsforscher. Die Haupttatigkeit der In, Stitute besteht jiingst darin, nach jeder Wahl zu erklaéren, warum die Ergebnisse , anders sind als ihre Vorhersagen. Als Standard-Grund wird ein plötzlicher _Umschwung der 6ffentlichen Meinung angeführt. Ein typischer Fall war der ,Erfolg" des kommunistischen Kandidaten in Frankreich. Jeder wird zugeben, daB Herr Jacques Duclos einen geschickten Wahlkampf geführt hat. Aber niemand diirfte naiv genug sein, wirklich zu glauben, es sei ihm in einigen Tagen intensiver Arbeit gelungen, die Zahl seiner Anhanger zu verdoppeln. Auch Herr Poher diirfte kaum in der gleichen Zeit mehr als ein Drittel seiner Freunde eingebiiBt haben. Anstatt der Fantasie-Hundertsatze ist man namlich einfach zu jenen Ergebnissen gekommen, die man mit ein biBchen Hausverstand hatte vorhersagen kénnen. Denn in Wirklichkeit hat Herr Duclos nur wieder seine alten Anhanger gefunden, Herr Pompidou die Gaullisten und die Jugend und Herr Poher die Veteranen der Dritten und Vierten Republik. Diese Irrtümer der Meinungsforschung sind keineswegs auf Frankreich beschrankt. Wir erlebten sie bei den lokalen Wahlen in Oesterreich — insbesondere Salzburg und. Wien — und auch bei den Gemeindewahlen in Los Angeles, Immerhin ist es eigenartig festzustellen, daB die ,,Irrtiimer" immer nur die Machthaber, das _,,Establishment", begiinstigen, seien es nun die beiden. GroBparteien in Oesterreich, der linke Fliigel der Demokraten in Amerika’ oder Frankreichs interimistischer Prasident, Herr Poher. Es. ist daher nicht ganz abwegig, wenn so manche fordern, daB dieses amiisante Spiel. wahrend der Wahlkémpfe unterbrochen werde, da diese immerhin ernster sind , als das Toto. Denn die Vorhersagen erinI nern doch etwas an jene der ,Haruspices" im alten Rom, die die Zukunft ganz wis- | senschaftlich aus den Eingeweiden der Hiihner lasen. Auch sie haben sich nicht immer geirrt und zogen es vor, meist nur auf ihre Erfolge zu verweisen. Denn sogar die stillstehende Uhr zeigt zweimal taglich die richtige Zeit an. Der Riickgang der Bedeutung des Fern-’ sehens’ und die zweifelhaften Ergebnisse der Meinungsforscher Wweisen auf eine grundlegende, nur zu: oft .vergessene politische Tatsache hin: .trotz aller technischen Fortschritte ist der Mensch noch nicht zur Maschine geworden. :