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Das franzdésische
Referendum
Von Otto Habsburg

Am Sonntag, den 27. April, werden die
franzésischen Wahler über die regionale
Organisation ihres Landes und die Zukunft
der Zweiten Kammer, ‘des Senates;. abstim¬
men. Dieses Ereignis ist für alle Europder
von Interesse, daher auch die Viclfalt wie
dersprechender Erklarungen. Letztere stam¬
men oft von sogenannten Sachverstandigen,
die in die Reihen der Kremlinologen der
letzten Jahre treten. Nachdem der Ausdrudk
Gaullologen nicht schön ist, wollen wir sie
besser. Elyseeologen nennen, Thre Wissen¬
schaft besteht. vornehmlich darin, das, was
im Lichte der Tatsachen einfach erscheint,
nach Méglichkeit zu komplizieren.

i ‘General de: Gaulle ist ein geradliniger
Politiker. Seit.er an der Macht ist, hat er
immer genau’ vorhergesagt, was er tun
wirde. Zu Beginn wollte er vor allem sei¬
nem Lande-eine. freie Hand-in der AuBen¬
politik sichern: Daheívhat:er die atomare
Politik, einés seiner Vorgángét, des. Sozia¬
"listen Gúy.Mollet, weiter verfolgt. Er hat
dann nacheinander den :Krieq in Algerien
beendet, einen -Freundschaftsvertraq. "mit
Deutschland unlerzeichnet, "sidr von den
überhöltén milizárisájén Bindungen ‘der
NATO befreit, ofine den Atlantikpakt: zu
verlassen — mit einem Wort, er ging: sei¬
. nen. eigenen Weg. ve a

. Diese. Orientierung: hat ihr Gegenstüdk
in der Innenpolitik, Nach Durchfiihrung
vordringlicher WirtschaftsmaSnahmen: kom¬
men drei Reformen: Erziehung, verwal¬
tungstechnische Strukturaénderungen und
Mitbestimmung in den Betrieben;

Die Reform der Hochschulen ist’. in
Durchfiihrung. Wenn die Wahler: auf ihren
Praésidenten héren, wird nunmehr die Um¬
gliederung des Gebietes unternommen. Die¬
se ist bedeutend, weil ganz Europa frither
oder spdter die Regionalisierung braucht,
Frankreich, ein bisher stark zentralisiertes
Land, bedarf weitgehender Autonomien,
‘wenn sich die Staatsbiirger auch in Zukunft
Jam 6ffentlichen Leben interessieren sollen,
Es ist bezeichnend, daB sogar die Gegner
des. .Projektes seine Grundsatze bejahen.
Bestehen einmal die Regionen, wird die
Mitbestimmung in den Betrieben desto
leichter durchfithrbar sein. 7 “

Wahrend also das Problem an sich keine
groBere Kontroverse auslést, hat die Vor¬
gangsweise einige Unruhe verursacht, Die
massive gaullistische Mehrheit im Parla¬
ment hatte. gentigt, auch ohne Referendum
auszukommen. Es scheint, daB innenpoliti¬
| sche Griinde fiir die Wahl. des Weges maB¬
gebend waren. ; ;

Die groBen Wandlungen unserer Zeit
haben in Frankreich Mifstimmung verur¬
sacht. Es sind das die gleichen Griinde wie
diejenigen der Unruhen.in Italien, Amerika,
Deutschland etc. Diese Spannungen, die im
Mai vorigen Jahres zu einer schweren Krise
fiihrten, haben sich jiingst etwas gewan¬
delt. Es-sind nicht mehr so sehr die radi¬
kalen Studenten, die die Initiative haben,
sondern ein potentiell weit gefahrlicheres
Element: kleine Aktivistengruppen an den
Arbeitsplatzen. Ein moderner. Betrieb kann
durch eine Handvoll Manner stillgelegt wer¬
den. Das ist der. Grund, warum die. Anar¬
chisten und Magoisten ihre: Anstrengungen
auf Schitisselpersonen richten und auf diese
Weise versuchen, die’ ganze Wirtschaft zu
ldhmen, .

. Hier handelt es sich nur. um. eine Min¬
derheit — genau. wie.Cohn-Bendit im Marz
1968. in Nanterre, Sie wird von den Ge¬
werkschaften heftig bekümpít, auch von
den Kommunisten’ der CGT. Aber sie ist
trotzdem gefáhrlich, denn “in einer Ueber¬
gangszeit, wie der unserén, kann ihre Wir¬

kung explosiv sein. .
In dieser Perspektive sollte das Referen¬

dum verstanden werden. Der politische
Kampf leitet namlich-Bnergien. ab, besdiat

tigt und gibt das Gefiihl der Leistung, aui
der einen wie der anderen Seite. Er erlaubt
daher eine drohende Klippe zu umschiffen,
indem er die Krafte auf ein niitzliches Ziel
richtet, anstatt ihnen Zeit zu geben auf die
Einflisterungen. der Linksextremistén . zu
héren. Niemand- wird leugnen kénnen, dab

noch gefáhrlicher ware, ©