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/ Atomsperrvertrag . und Europa Von Otto Habsburg Es ist eine Eigentümlichkeit der gegenwartigen Diskussion um den Atomsperrvertrag, daB sie meist nur über dessen sicherheitspolitische Bedeutung gefiihrt wird. Dabei gibt es andere Gesichtspunkte, die zumindest : ebenso beherzigenswert sind. Denn das Abkommen in seiner jetzigen Form hat mit Abrüstung nur sehr indirekt zu tun, wahrend es im Wesen vor allem darauf hinzielt,. ein wirtschaftliches. Weltmonopol der friedlichen Nutzung der Kernenergie .zugunsten der Supermashte’ zu schaffen. Eine der wichtigsten, meist ,vergessenen" Auswirkungen des : NichtweitergabeVertrages. betrifft Europa und die Bestre.bungen, den Erdteil zu einigen. Es stellt sith namlich unweigerlich die Frage, ob man nach einer Ratifikation-sich tiberhaupt noch Hoffnungen auf weitere Integrationen machen darf. ‘Hier scheint dás" hochst’ ‘doppeldiniige Wort ,indirect controls” in Artikel III Be| deutung zu haben. Dieses kann ebenso Kon_trolle wie. auch Befehlsgewalt heiSen und ist. durch. das. Beiwort ,indirect” auf so ziemlich alle. Gebiete anwendbar. Sowjetische Persénlichkeiten haben bereits angedeutet, daB sogar eine Verbindung zwischen einem atomaren und nicht-atomaren Staat unter den Vertrag fallen könnte, da eine solche méglicherweise irgendwann zu einer Uebertragung von. Massenzerstdrungswaffen fiihren kénnte. Es handelt sich also um einen typischen Kautschuk-Para‘graphen, der RuBlánd die. Handhabe lie"fert, europdische Verstaéndigungen ‘mit den -Atommachten England oder Frankreich zu behindern. Noch schwerwiegender als diese Bedenken ist jedoch die Tatsache, daB der Sperrvertrag die Schaffung eines technisch-wissenschaftlichen Europas,. sogar einer Forschungsgemeinschaft, unmdglich -machen ‘kann. Die Industrien und Laboratorien der vatomaren Habenichtse werden nach Inkraft‘treten des Vertrages ‘der internationalen Inspektion unterworfen werden, was Zzumindest das Forschungsgeheimnis ernstlich in Frage stellen wird. Da andererseits die nuklearen Staaten Europas — England und Frankreich — nicht inspiziert werden können, ist es schwer denkbar, da8 sich diese mit Nachbarn zusammenschlieBen, deren Erfindungen modglicherweise ihren gefahrlichsten Konkurrenten, den Supermdchten, zur Kenntnis kommen könnten. Damit ware der Weg zum technologischen Europa versperrt, welches bei weitem die beste Hoffnung fiir ein Ueberwinden der Wirtschaftsblécke darstellt. SchlieBlich kann man vorhersagen, daB nach Inkrafttreten des Vertrages eine massive Auswanderung der Wissenschaftler und Spitzentechniker der kontrollierten Staaten einsetzen wird. Kein Erfinder oder Pionier sieht.es gerne, wenn andere seine Entdeckungen ohne Gegenleistung erfahren. Schon heute beklagen wir uns über unseren geistigen Substanzverlust; dieser wiirde aber unter dem Sperrvertrag zu einer wahren Polarisation des Wissens fiihren. Einer der gröbten NutznieBer der Entwicklung nebst Amerika ware zweifellos | Frankreich, dem über kurz oder lang die , Hegemonie: in Europa. zufallen müBte. Es ist ein schlüssiger Beweis der europaischen Gesinnung von Paris, daB dieses, im Gegensatz zu London und unter Zurtickstellung eigener. eng-nationaler Interessen, den Vertragsentwurf bekampft. Das sollten sich jene Europáer vor Augen halten, die systematisch nur das Schlechte bei den Franzo; sen suchen und von deren Leistungen einfach keine Kenntnis nehmen wollen. Die hier aufgefiihrten Tatsachen, denen lung ernstlich widersprechen kann, weisen auf die groBen Gefahren des Inkrafttretens des Atom-Sperrvertrages hin. Diese bedro‘hen gleichermafen: alle, .ob..sie einem der ‘Biindnisse angehéren oder neutral sind. Denn die Unterentwicklung láBt sich nicht lokalisieren, und im Zeitalter der Düsenflugzeuge und Raketen gibt es keine Einzelfalle mehr.