Europa hat Eile!
von Otto Habsburg
Die weltpolitische Konjunktur fiir die
Einigung Europas ist seit Beginn des Jah¬
res 1969 giinstig geworden. Diese Entwick¬
lung fallt zeitlich mit der groBen Wachab¬
lése in Westeuropa zusammen, dem Wan¬
del in Frankreich, der Krise in England und
der kommenden deutschen Bundestags¬
wahl. Wir haben also eine neue Chance we¬
sentliche Fortschritte zu machen, weil be¬
kanntlich antretende Regierungen leichter
Initiativen ergreifen k6nnen, als solche, die
schon lange an der Herrschaft sind.
Jenseits unserer Grenzen geht der Ver¬
fall sowjetischer Macht weiter. Seit der Ex¬
plosion einer chinesischen Wasserstoff¬
bombe am 27. Dezember 1968 ist die Kon¬
frontation an den Gstlichen Marken der
UdSSR in. greifbare Nahe. geriickt. Dadurch
wird Moskau. gezwungen, Frieden im. atlan¬
tischen Raum zu suchen. Der russische
Druck auf Mitteleuropa muB friiher oder
spater nachlassen. Die ndachste ‘Welle des
Polyzentrismus, die unweigerlich kommt,
hat damit eine wesentlich bessere Aus¬
gangsbasis als seinerzeit die ungarische Re¬
volution oder der Prager Friihling. Die Ein¬
mischung in die Angelegenheiten freier
éuropdischer Vélker, auch der Neutralen,
wird. fiir den Kreml immer schwerer;. sie
wird nur noch dort Erfolg haben, wo aus
Schwáche oder. Konzeptlosigkeit: auf Wiin¬
sche eingegangen wird, die bei Widetstand
oder selbstbewuBter Haltung sofort ‘fallen¬
gelassen wiirden.
Dazu kommt der Faktor Amerika. Die
Prasidenten' Kennedy und Johnson hatten
wohl duferlich nichts gegen eine euro¬
pdische Einigung; in Wirklichkeit wurde
aber diese nach Kraften sabotiert. Insbe¬
sondere den asiatisch orientierten Ratge¬
bern des WeiBen Hauses,- wie Herrn Ro¬
stow, war ein unabhdngiges Europa uner¬
wunscht. .
Mit der Pradsidentschaft Richard Nixons
und der Politik, die mit dem Namen von
Professor Henry Kissinger verbunden ist,
erfolgte diesbeziiglich eine grundlegende
Wandlung. Washington ist nunmehr tiber¬
zeugt, daB politisch wie wirtschaftlich es
im wohlverstandenen Interesse. Amerikas
ist, einen kraftigen und handlungsfahigen
Partner in Europa zu haben. Demnach fallt
die Schwachung des russischen Einflusses
zeitlich mit einer Umorientierung Amerikas
zusammen, wodurch die Aussichten wesent¬
lich verbessert werden. Daher der wach¬
sende Optimismus der Zustandigen.
Es gibt allerdings einfluBreiche Persén¬
lichkeiten, sogar in den europdischen Kor¬
perschaften, die anscheinend glauben, man
könne sich Zeit lassen. Diese bequeme Spe¬
kulation ist falsch. Wahrend namlich die
Schwaéchung der UdSSR wahrscheinlich
Jahre, ja Jahrzehnte andauern wird, ist die
giinstige Einstellung der USA keineswegs
gesichert. Es ist namlich fraglich, ob Herr
Nixon wiedergewaéhlt wird. Nach Ansicht
1972 der nachste Prasident der Vereinigten
Staaten werden.
Der jiingste Sohn der Kennedy-Dynastie
hat erst seit dem gewaltsamen Tode seines
Bruders Robert begonnen, eine eigenstan¬
dige politische Rolle zu spielen. Seine
AeuBerungen in den letzten Monaten sind
fiir die Zukunft nicht unbedenklich. Die An¬
gtiffe Kennedys, insbesondere im Zusam¬
menhang mit dem Krieg in Vietnam, ver¬
raten eine demagogische Unverantwort¬
lichkeit, die wohl kaum echte Eignung fir
die Fithrung des madchtigsten westlichen
Staates verrat. Er fallt namlich seiner Re¬
gierung in den kritischsten Phasen der Frie¬
densverhandlungen in den Riicken; er
starkt damit die Gegner seines Landes und
mindert die Chancen eines echten Frie¬
dens. Hier ist also ein Mann, der die
AuBenpolitik offensichtlich so wenig be¬
gen sich bloB durch kleinliche wahlstrate¬
gische Interessen leitén laBt. .
Halt man sich vor Augen, daB Kennedy
vielleicht schon in dreieinhalb Jahren Pra¬
sident der Vereinigten Staaten sein kann,
darf man die giinstige Zeit unter Nixon
nicht ungeniitzt, verstreichen lassen. Es ist
fiir Europa nachgeradezu eine Lebensfrage,
auf eigenen Beinen’ zu stelien, noch bevor
ein Umschwung in der Neuen Welt ein¬
tritt. Niemand kann uns namlich garantie¬
ren, daB es sich hier nicht: um eine letzte
Chance handelt. :